Rezension und  Empfehlung

 Weiße Finsternis

 Abenteuer mit historischem Hintergrund von Florian Wacker

 

Komm, schließe deine Augen. Stell dir vor, du stehst auf einem endlosen Feld aus Weiß. Wie Nadeln spürst du den Schnee, den der Wind ins Gesicht peitscht. Die -10 Grad sind schmerzhaft bis in die Eingeweide. Dein Körper muss massig Energie erzeugen, um die Wärme des Blutes zuhalten, dennoch ist dein Innerstes wie Beton. Ein Baumwollpullover, ein ölig glänzender Sweater, eine ähnliche Hose und eine Felljacke dienen als Schutz. Das ist alles. Die Holzski mit Lederriemen an den Füßen zerren an dir wie Bleigewichte. Seit mehr als 30 Tagen und Nächten bist du im Eis. Dunkel umgibt dich der Winter am Pol. Nur Aurora boreales senden etwas Licht. Du willst das es aufhört und jemand sagt zu dir: „Nur noch 100 Werst, dann haben wir es geschafft.“

 

Ein Werst ist etwas mehr als ein Kilometer. Was bedeutet, ungefähr 100 Kilometer zurücklegen zu müssen, um endlich richtige Wärme zu spüren. Ein Feldtheodolit und etwas Kerosin sind alles, was dich bis dort begleiten wird.

 

Können wir heute verweichlicht und vom technischen Fortschritt geprägt, überhaupt erahnen, welch übermenschliche Kraftanstrengung es bedurfte, solche Reisen zu unternehmen? Und wofür? Für ein klein bisschen Ruhm und Anerkennung gingen Menschen durch die „Weiße Finsternis“.

 

„Jeder will ein kleiner König sein, glaub mir“, sagt Paul, „selbst du. Du willst Thore Geschichten erzählen, in denen du ein Held bist und kein Stubenhocker.“ „Ich will nur nach Hause“, murmelt Peter. Hinter dem steif gefrorenen Schal staut sich sein Atem. Kurz spürt er seine brennenden Lippen, dann wird auch dieser Hauch zu Reif und setzt sich in der Wolle fest. „ (S.78)

 

Fast jeder kennt dieses Gefühl, nicht so leben zu wollen wie die Eltern. Noch dazu, wenn man in einem abgeschiedenen Ort weit weg von der Zivilisation lebt. So ergeht es auch Paul, Peter und Liv. Gemeinsam aufgewachsen und doch hat jeder seine eigenen Vorstellungen und Wünschen an die Zukunft. Doch etwas verbindet sie, Freundschaft und Liebe. Das Unvermeidliche nimmt seinen Lauf.

 

Als die beiden Männer nicht mehr von der von Amundsen angeordneten Reise zurückkehren, beginnt eine Expedition im Auftrag der Regierung, um nach Ihnen zu suchen. Wobei es wohl eher um die Aufzeichnungen von Amundsen geht, die sie mitnahmen, als tatsächlich um die beiden Seeleute. Es ist 1920 und wir lernen mit dieser Geschichte das Leben der Menschen im Polargebiet kennen. Ihre Sehnsüchte und ihre Ziele. Was ich spürte, war die Demut und den Respekt der Einheimischen vor den Naturgewalten. Die Europäer glaubten ihnen trotzen zu können. Doch der Preis dafür war hoch.

 

Florian Wacker schreibt diesen Roman mit einem Spannungsbogen, der sich durch Rückblenden in zwei Zeitstufen und der Expedition als Gegenwart zieht. Aufmerksam verfolgt man die Zeit- und Ortsangaben, um die Abfolge des Geschehens zu inhalieren. Manchmal hielt ich den Atem an, weil ich die Verzweiflung von Peter Tessem oder Liv zu spüren glaubte.

 

Meine Empfehlung: Wer eine tragische Geschichte mit historischem Hintergrund mag und sich in die raue Natur des nordischen Polarkreises einfühlen will, der ist genau richtig und wird das Buch nur schwer aus der Hand legen können.